1/16/2006

Frühkindlicher Autismus

Frühkindlicher AutismusDie beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme für Krankheiten, ICD-10 und DSM-IV, nennen vier diagnostische Kriterien für frühkindlichen Autismus:
Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation, repetitive und stereotype Verhaltensmuster und Manifestation vor dem 3. Lebensjahr. Darüber hinaus nennt ICD-10 noch unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlafstörungen, Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen und selbstverletzendes Verhalten (Automutilation).
Üblicherweise geht mit dem frühkindlichen Autismus eine Intelligenzminderung einher. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen keine Intelligenzminderung auftritt. Diese Variante des frühkindlichen Autismus wird als hochfunktionaler Autismus (engl. high-functioning-autism) bezeichnet. Er ähnelt sehr dem Asperger-Syndrom. Eine Differenzierung kann nur anhand der Entwicklung in der frühen Kindheit vorgenommen werden, insbesondere anhand des Beginns der Sprachentwicklung. Teilweise werden die Begriffe hochfunktionaler Autismus und Asperger-Syndrom auch synonym verwendet. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass beide Störungen sich in ihrem Auftreten ähneln, ignoriert jedoch, dass es sich letztlich um zwei verschiedene Störungen handelt.
Soziale InteraktionEine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion zeigt sich als extreme Kontaktstörung, die sich schon in den ersten Lebensmonaten durch fehlende Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere der Mutter bemerkbar macht. Kinder mit frühkindlichem Autismus strecken der Mutter die Arme nicht entgegen, um hochgehoben zu werden. Sie lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden und nehmen zu den Eltern keinen angemessenen Blickkontakt auf. Dem gegenüber steht eine starke Objektbezogenheit, die häufig beschränkt ist auf eine bestimmte Art von Gegenständen. Ihre Aufmerksamkeit ist auf wenige Dinge, wie Wasserhähne, Türklinken, Fugen zwischen Steinplatten oder kariertes Papier gerichtet, die sie magisch anziehen, sodass alles andere an ihnen vorbei geht. Oft finden sie in Gegenständen einen für andere fremden Zweck, sortieren beispielsweise die Einzelteile einer Spielzeugeisenbahn nach Größe und Farbe, oder ihr einziges Interesse an einem Spielzeugauto ist es, die Räder unablässig zu drehen.
KommunikationBei Menschen mit frühkindlichem Autismus fehlt bei etwa der Hälfte der Patienten eine Sprachentwicklung ganz. Bei der anderen Hälfte der Patienten kommt es zu einer Verzögerung der Sprachentwicklung. Anfangs fehlt der Sprache die kommunikative Funktion. Wörter oder Sätze werden einfach wiederholt (Echolalie). Im Kindesalter vertauschen die Patienten oft die Pronomina (pronominale Umkehr). Sie reden von anderen als ich und von sich selbst als du oder in der dritten Person. Diese Eigenart bessert sich überlicherweise im Laufe der Entwicklung. Wortneuschöpfungen (Neologismen) treten häufig auf. Menschen mit frühkindlichem Autismus haften an bestimmten Formulierungen (Perseveration). In der Kommunikation mit anderen Menschen haben sie Schwierigkeiten, Gesagtes über die genaue Wortbedeutung hinaus zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen. Ihre Stimme klingt eintönig (fehlende Prosodie).
Die Probleme in der Kommunikation äußern sich außerdem in Schwierigkeiten in der Kontaktaufnahme zur Außenwelt und zu anderen Menschen. Manche Autisten scheinen die Außenwelt kaum wahrzunehmen und teilen sich ihrer Umwelt auf ihre ganz individuelle Art mit. Deshalb wurden autistische Kinder früher auch Muschelkinder oder Igelkinder genannt. Die Wahrnehmungen im visuellen und auditiven Bereich sind oft deutlich intensiver als bei neurologisch typischen Menschen, daher scheint eine Abschaltfunktion im Gehirn die Reizüberflutung als Selbstschutz auszublenden. Autisten haben ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Bedürfnis nach Körperkontakt. Einerseits nehmen manche mit völlig fremden Menschen direkten und teils unangemessenen Kontakt auf, andererseits kann auch jede Berührung für sie aufgrund der Überempfindlichkeit ihres Tastsinns unangenehm sein.
Vor diesem Hintergrund gestaltet sich eine verstehende Kommunikation mit einem Autisten als schwierig. Emotionen werden oft falsch gedeutet oder gar nicht erst verstanden. Diese möglichen Probleme müssen bei der Kontaktaufnahme berücksichtigt werden und verlangen ein großes Einfühlungsvermögen.