1/16/2006

Genetische Faktoren

Genetische FaktorenBei Familienstudien wurde festgestellt, dass es eine familiäre Häufung von Autismus gibt. Genetische Faktoren sind daher als Ursache für Autismus sehr wahrscheinlich. Zwillingsuntersuchungen aus Europa und den USA zeigen, dass ein eineiiges autistisches Zwillingskind mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit (zirka 95,7%) einen autistischen Zwilling hat, als ein zweieiiges Zwillingskind. Daraus ließe sich zunächst folgern, dass die Ursache auch genetischer Art ist. Da aber nicht alle eineiigen autistischen Zwillingskinder einen autistischen Zwilling haben, lässt sich keine allgemeingültige Erklärung auf genetischer Basis finden. Aber nach den bisherigen Erkenntnissen aus diesen Familien- und Zwillingsuntersuchungen geht hervor, dass die Entstehung der Erkrankung durch eine Kombination verschiedener spezifischer Gene (sicher mehr als zwei), die wahrscheinlich insbesondere während der Gehirn-Entwicklung aktiv sind, bedingt ist.
HirnschädigungenVerschiedene Studien haben ergeben, dass Hirnschädigungen Ursache für Autismus sein können. Festgestellt wurden insbesondere eine Funktionsstörung der linken Gehirnhälfte, abnorme Veränderungen des Stammhirns in Kombination mit Aufmerksamkeitsdefizit sowie Störungen in der sensorischen Reizverarbeitung. Jedoch besteht in diesem Bereich noch weiterer Forschungsbedarf.
Biochemische BesonderheitenBei Untersuchungen von Menschen mit Autismus wurden Besonderheiten im biochemischen Bereich festgestellt. Teilweise weisen sie einen erhöhten Dopamin-, Adrenalin-, Noradrenalin- und Serotoninspiegel auf. Jedoch sind die Befunde in diesem Bereich uneinheitlich und lassen keine allgemeingültigen Schlüsse zu.
Gefühlsblindheit (mindblindness theory)Leo Kanner selbst ging davon aus, dass Kinder mit Autismus Defizite im affektiven Kontakt aufweisen, also ihre Fähigkeit, anhand der Körpersprache anderer Menschen deren Gefühle zu erkennen, eingeschränkt ist. Dies wird auf kognitive Defizite (Gefühlsblindheit, engl. mindblindness) zurückgeführt. Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten zu verstehen, dass Menschen unterschiedliche Empfindungen haben. Außerdem wurde festgestellt, dass Autisten im Gegensatz zu neurologisch typischen Menschen Objekte und Menschen in der gleichen Gehirnregion wahrnehmen. Jüngere neurobiologische Erklärungen führen ferner eine unzureichende Einbindung von Spiegelneuronen in die kognitiven Prozesse als (Mit-) Ursache des Autismus an.
empathising-systemising theory (E-S)Der britische Autismusforscher Simon Baron-Cohen vermutet, dass Autisten, verursacht durch einen hohen Testosteronspiegel im Mutterleib, ein extrem ausgeprägtes männliches Gehirn haben. In einer Studie mit 58 schwangeren Frauen zeichneten sich Kinder, die im Mutterleib einem erhöhten Testosteronspiegel ausgesetzt waren, gegenüber normalen Kindern durch einen kleineren, aber qualitativ höheren Wortschatz und selteneren Blickkontakt aus. Im Alter von vier Jahren waren diese Kinder sozial weniger entwickelt. Daraufhin entwickelte Bar

Häufige komorbide Symptome sind:

Häufige komorbide Symptome sind:
Aggression oder Autoaggression AD(H)S, Bipolarstörung, Depressionen, Epilepsie, Essstörungen (z.B. Anorexia nervosa, insb. bei Mädchen), Migräne, nonverbale Lernstörung, Phobien, posttraumatische Stressstörungen (PTSD), Prosopagnosie (Gesichtsblindheit), Schlafstörungen, selbstverletzendes Verhalten, sensorische Integrationsstörungen oder sensorisch-integrative Dysfunktionen (SID), Sozialphobie, Ticstörungen (die an das Tourette-Syndrom erinnern), Wutausbrüche, zentral-auditive Verarbeitungsstörungen sowie Zwangsstörungen.
Unterscheidung der Zustände innerhalb des AutismusspektrumsEine Unterscheidung zwischen atypischem und frühkindlichem Autismus kann üblicherweise problemlos vorgenommen werden, da der atypische Autismus aufgrund seiner Unterschiede zum frühkindlichen Autismus definiert ist. Da atypischer Autismus meist mit geistiger Behinderung einhergeht, ist auch eine Abgrenzung zum Asperger-Syndrom gegeben. Bevor das Asperger-Syndrom in den 1990er Jahren als eigene Diagnose eingeführt wurde, bekamen Patienten, die heute die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten, die Diagnose atypischer Autismus.
Frühkindlicher Autismus unterscheidet sich vom Asperger-Syndrom im Wesentlichen durch die beim Asperger-Syndrom fehlende Verzögerung der sprachlichen und kognitiven Entwicklung. Schwierig kann eine Differenzierung zwischen frühkindlichem Autismus und Asperger-Syndrom werden, wenn der frühkindliche Autismus in der Form des hochfunktionalen Autismus auftritt. In der Variante des hochfunktionalen Autismus liegt keine Intelligenzminderung vor und die Symptome ähneln denen des Asperger-Syndroms sehr. In der Forschung ist umstritten, ob überhaupt ein Unterschied zwischen hochfunktionalem Autismus und Asperger-Syndrom vorliegt. Daher werden teilweise die Begriffe hochfunktionaler Autismus und Asperger-Syndrom synonym verwendet. Einen guten allgemeinverständlichen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von hochfunktionalem Autismus und Asperger-Syndrom bietet das Essay Is There a Difference Between Asperger's Syndrome and High-Functioning Autism von Tony Attwood.
UrsachenAutismus ist eine neurologische Störung und hat organische Ursachen.
Weil die Betroffenen meist normal aussehen, werden sie von Außenstehenden in der Öffentlichkeit schnell als unerzogen, unhöflich und provokativ erlebt. Die Schuld an ihrem unangepassten Verhalten wird meist den Eltern zugeschrieben. Solche Schuldzuweisungen und daraus resultierende Schuldgefühle enden nicht selten in Rückzug und sozialer Isolation. Die These, Autismus entstehe aufgrund der emotionalen Kälte der Mutter (ehemaliger Terminus der sogenannten „Kühlschrankmutter“), durch lieblose Erziehung, mangelnde Zuwendung, Traumata o.ä. ist heute eindeutig widerlegt.
Die genauen Ursachen indes sind noch nicht geklärt, es existiert aber eine Reihe von Theorien, von denen die wesentlichen im Folgenden angesprochen werden sollen. Üblicherweise erklären die einzelnen Theorien nur einen Teilaspekt der autistischen Störungen, sodass Autismus letztlich wohl auf Wechselwirkungen mehrerer Faktoren zurückzuführen ist.
Nicht ausgeschlossen werden kann außerdem, dass es sich bei Autismus um ein Produkt der menschlichen Evolution handelt und nicht um eine Behinderung oder Krankheit. Autismus ist vielleicht nur Teil der biologischen Vielfalt der Menschheit. Diese Annahme wird durch neue Forschungsergebnisse untermauert, in denen subklinische Formen von Autismus untersucht werden. Außerdem entwickelt sich unsere Gesellschaft immer mehr in eine Richtung, die Autismus auffälliger werden lässt, weil diese stetig mehr auf soziale Fähigkeiten abzielt. Menschen, die früher nicht als Autisten galten, könnten heute schon als Menschen mit Asperger-Syndrom diagnostiziert werden. Hier spielt besonders die Abweichung von der Norm eine Rolle: Die Frage, ob Autismus vorliegt, wird hierbei zunehmend zu der Frage, wieviel Autismus ein Mensch hat. Fest steht, dass es sich bei Autismus um ein autistisches Spektrum (s.o.) handelt, bei dem alle denkbaren Zwischenstufen zwischen „Autismus“ und „Normal“ vorkommen (Lit.: Kennedy 2002; Ratey/Johnsons 1999).

Soziale Interaktion

Soziale InteraktionDas wohl schwerwiegendste Problem für Menschen mit AS ist das des beeinträchtigten sozialen Interaktionsverhaltens. Beeinträchtigt sind zwei Bereiche, zum einen die Fähigkeit, zwanglose Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, und zum anderen die nonverbale Kommunikation.
Kindern und Jugendlichen fehlt in der Regel der Wunsch, Beziehungen zu Gleichaltrigen herzustellen. Dieser Wunsch entsteht normalerweise erst in der Adoleszenz, meist fehlt dann aber die Fähigkeit dazu.
Die Beeinträchtigungen im Bereich der nonverbalen Kommunikation betreffen sowohl das Verstehen nonverbaler Botschaften anderer Menschen als auch das Aussenden eigener nonverbaler Signale.
Als besonders problematisch erweisen sich die Schwierigkeiten im Bereich des sozialen Interaktionsverhaltens, da Menschen mit Asperger-Syndrom nach außen hin keine offensichtlichen Anzeichen einer Behinderung haben. So können selbst Menschen, die sich ansonsten durch Toleranz gegenüber ihren behinderten Mitmenschen auszeichnen, die Schwierigkeiten von Menschen mit Asperger-Syndrom als bewusste Provokation empfinden. Wenn etwa ein Betroffener auf eine ihm gestellte Frage nur mit Schweigen reagiert, wird dies oft als Sturheit und Unhöflichkeit gedeutet.
Im Alltag machen sich die Schwierigkeiten im Bereich des sozialen Interaktionsverhaltens auf vielfältige Art bemerkbar. Menschen mit AS können schlecht Augenkontakt mit anderen Menschen aufnehmen oder halten. Sie vermeiden Körperkontakt, wie etwa Händeschütteln. Sie sind unsicher, wenn es darum geht, Gespräche mit anderen zu führen, besonders wenn es sich um einen eher belanglosen Smalltalk handelt. Soziale Regeln, die andere intuitiv beherrschen, verstehen Menschen mit AS nicht intuitiv, sondern müssen sie sich erst mühsam aneignen. Daher haben Menschen mit AS oft keine oder kaum Freunde. In der Schule etwa sind sie in den Pausen lieber für sich, weil sie mit dem üblichen Umgang anderer Schüler untereinander nur wenig anfangen können. Im Unterricht sind sie in der Regel wesentlich besser im schriftlichen als im mündlichen Bereich. In der Ausbildung und im Beruf macht ihnen der fachliche Bereich meist keine Schwierigkeiten, nur der Smalltalk mit Kollegen oder der Kontakt mit Kunden. Auch das Telefonieren kann Probleme bereiten. Im Studium können mündliche Prüfungen oder Vorträge große Hürden darstellen. Da auf dem Arbeitsmarkt wohl in allen Bereichen Kontakt- und Teamfähigkeit genauso viel zählt wie fachliche Eignung, haben Menschen mit AS Probleme, überhaupt eine geeignete Stelle zu finden. Viele sind selbstständig, jedoch können sie sich bei Problemen mit Kunden kaum durchsetzen, etwa wenn ein Kunde nicht bezahlt. In einer Werkstatt für behinderte Menschen indes wären sie völlig unterfordert. Die meisten Menschen mit AS können durch hohe Schauspielkunst nach außen hin eine Fassade aufrecht erhalten, sodass ihre Probleme auf den ersten Blick nicht direkt sichtbar sind, jedoch bei persönlichem Kontakt durchscheinen, etwa in einem Vorstellungsgespräch. Menschen mit AS gelten nach außen hin zwar als extrem schüchtern, jedoch ist das nicht das eigentliche Problem. Schüchterne Menschen verstehen die sozialen Regeln, trauen sich aber nicht, sie anzuwenden. Menschen mit AS würden sich trauen sie anzuwenden, verstehen sie aber nicht und können sie deshalb nicht anwenden. Die Empathie ist bei Menschen mit AS eingeschränkt. Menschen mit AS können sich schlecht in andere Menschen hineinversetzen und deren Stimmungen oder Gefühle an äußeren Anzeichen ablesen. Überhaupt bereitet es ihnen Schwierigkeiten, zwischen den Zeilen zu lesen und nicht-wörtliche Bedeutungen von Ausdrücken oder Redewendungen zu verstehen. Dadurch können sie im sozialen Umgang anecken, da sie für andere Menschen offensichtliche nonverbale Signale nicht verstehen. Auch können sie in gefährliche Situationen geraten, da sie äußere Anzeichen, die auf eine bevorstehende Gefahr etwa durch Gewalttäter hindeuten, nicht richtig deuten können.
Stereotype Verhaltensmuster und SonderinteressenRepetitive und stereotype Verhaltensmuster zeigen Menschen mit AS in ihrer Lebensgestaltung und in ihren Interessen. Das Leben von Menschen mit AS ist durch ausgeprägte Routinen bestimmt. Werden sie in diesen gestört, kann das zu erheblichen Beeinträchtigungen führen. Menschen mit AS sind meist wenig flexibel und fallen aus der Bahn, sobald sie in ihren Routinen gestört werden. In ihren Interessen sind Menschen mit AS teilweise auf ein Gebiet beschränkt, auf dem sie meist ein enormes Fachwissen haben. Ungewöhnlich ist das Ausmaß, mit dem sie sich ihrem Interessensgebiet widmen; für andere Gebiete als das eigene sind sie meist nur schwer zu begeistern. Da Menschen mit AS meist gut logisch denken können, liegen ihre Interessensgebiete oft im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, aber auch andere Gebiete sind möglich.
Repetitive und stereotype Verhaltensmuster sowie ausgeprägte Sonderinteressen können sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringen. Ein gut durchorganisierter Alltag gibt Halt, werden Routinen aber um ihrer selbst Willen gelebt, kann das zum Problem werden. Ausgeprägte Sonderinteressen können die Grundlage für eine berufliche Karriere bilden, können aber auch zu einem verengten Denken führen.
Komorbide SymptomeZusammen mit Autismus können eine Reihe komorbider Symptome auftreten. Menschen mit Autismus neigen üblicherweise zu stark visuellem Denken. Synästhesie kommt bei ihnen häufig dergestalt vor, dass sie Sinneswahrnehmungen bestimmte Farben zuordnen. Menschen mit Autismus sind empfindlich gegenüber Außenreizen, wie etwa Berührungen; andererseits haben sie üblicherweise ein verringertes Schmerzempfinden. Während der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter treten bei Menschen mit Autismus teilweise psychotische Episoden auf. Mit dem Asperger-Syndrom können motorische Auffälligkeiten auftreten. Positive Auswirkungen von Autismus sind beispielsweise eine besondere Kreativität, Neigung zur Ehrlichkeit und großes Durchhaltevermögen.
Bei Menschen mit Autismus ist die Intelligenz anders als bei neurologisch typischen Menschen nicht gleichmäßig ausgeprägt. Während sie im Gebiet ihres Spezialinteresses oft ein enormes Wissen ansammeln und gut logisch und systematisch denken können, sind ihre Fähigkeiten im sozialen und emotionalen Bereich unterentwickelt. Diese ungleichmäßige Intelligenzverteilung erklärt auch, warum manche ansonsten geistig behinderte Menschen auf einem eng umgrenzten Gebiet herausragende Fähigkeiten entwickeln können.

Repetitive und stereotype Verhaltensmuster

Repetitive und stereotype VerhaltensmusterVeränderungen ihrer Umwelt, wie zum Beispiel umgestellte Möbel oder ein anderer Schulweg, führen bei Autisten zu Beunruhigung und Verunsicherung. Manchmal geraten Betroffene auch in Panik, wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewöhnlichen Platz oder in einer bestimmten Anordnung befinden. Die Tatsache, dass Autisten eine intensive Wahrnehmung für Details haben und daher auch kleine Veränderungen bemerken, verschlimmert dieses Problem. Handlungen laufen aufgrund der Probleme bei Unregelmäßigkeiten stark ritualisiert ab.
Die Interessen von Autisten sind meist auf bestimmte Gebiete begrenzt. Menschen mit hochfunktionalem Autismus können in einem Bereich ihres besonderen Interesses ein enormes Wissen ansammeln. In Ausnahmefällen zeigen autistische Menschen außergewöhnliche Begabungen in einem sehr begrenzten Gebiet, etwa im Rechnen, Malen, in der Musik oder in der Merkfähigkeit (Inselbegabung).
Asperger-SyndromDie beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme für Krankheiten, ICD-10 und DSM-IV, nennen vier diagnostische Kriterien für das Asperger-Syndrom (AS):
Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, repetitive und stereotype Verhaltensmuster sowie ausgeprägte Sonderinteressen, keine klinisch bedeutsame Verzögerung der sprachlichen und kognitiven Entwicklung und Symptome erfüllen nicht die Diagnosekriterien einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung oder der Schizophrenie. Üblicherweise treten mit AS auch motorische Beeinträchtigungen auf.
Die mit AS in Verbindung stehenden Ausprägungen reichen bis weit in normale menschliche Verhaltensmuster hinein. Es kann von einem Kontinuum, also einem durchgehenden Spektrum von Auffälligkeiten ausgegangen werden. Für ein unklar umrissenes Sammelsurium von Auffälligkeiten kann ab einem gewissen Maße die Bezeichnung Asperger-Syndrom als zutreffend herangezogen werden.
Obwohl viele Verhaltensweisen das soziale Netz der Betroffenen, insbesondere der nächsten Bekannten, und der Familie stark in Anspruch nehmen, sind es nicht nur negative Aspekte, die AS qualifizieren. Es gibt zahlreiche Berichte über das gleichzeitige Auftreten von überdurchschnittlicher Intelligenz oder auch von – für als normal geltende Menschen unfassbaren – Inselbegabungen. Leichtere Fälle von AS werden im Englischen umgangssprachlich auch als „Little Professor Syndrome“, „Geek Syndrome“ oder „Nerd Syndrome“ bezeichnet.
Einen guten Überblick über die Symptome des Asperger-Syndroms bietet die von Aspergia e. V. herausgegebene Broschüre Wie macht sich das Asperger-Syndrom bemerkbar? (Lit.: Tibi 2005).

Frühkindlicher Autismus

Frühkindlicher AutismusDie beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme für Krankheiten, ICD-10 und DSM-IV, nennen vier diagnostische Kriterien für frühkindlichen Autismus:
Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation, repetitive und stereotype Verhaltensmuster und Manifestation vor dem 3. Lebensjahr. Darüber hinaus nennt ICD-10 noch unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlafstörungen, Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen und selbstverletzendes Verhalten (Automutilation).
Üblicherweise geht mit dem frühkindlichen Autismus eine Intelligenzminderung einher. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen keine Intelligenzminderung auftritt. Diese Variante des frühkindlichen Autismus wird als hochfunktionaler Autismus (engl. high-functioning-autism) bezeichnet. Er ähnelt sehr dem Asperger-Syndrom. Eine Differenzierung kann nur anhand der Entwicklung in der frühen Kindheit vorgenommen werden, insbesondere anhand des Beginns der Sprachentwicklung. Teilweise werden die Begriffe hochfunktionaler Autismus und Asperger-Syndrom auch synonym verwendet. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass beide Störungen sich in ihrem Auftreten ähneln, ignoriert jedoch, dass es sich letztlich um zwei verschiedene Störungen handelt.
Soziale InteraktionEine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion zeigt sich als extreme Kontaktstörung, die sich schon in den ersten Lebensmonaten durch fehlende Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere der Mutter bemerkbar macht. Kinder mit frühkindlichem Autismus strecken der Mutter die Arme nicht entgegen, um hochgehoben zu werden. Sie lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden und nehmen zu den Eltern keinen angemessenen Blickkontakt auf. Dem gegenüber steht eine starke Objektbezogenheit, die häufig beschränkt ist auf eine bestimmte Art von Gegenständen. Ihre Aufmerksamkeit ist auf wenige Dinge, wie Wasserhähne, Türklinken, Fugen zwischen Steinplatten oder kariertes Papier gerichtet, die sie magisch anziehen, sodass alles andere an ihnen vorbei geht. Oft finden sie in Gegenständen einen für andere fremden Zweck, sortieren beispielsweise die Einzelteile einer Spielzeugeisenbahn nach Größe und Farbe, oder ihr einziges Interesse an einem Spielzeugauto ist es, die Räder unablässig zu drehen.
KommunikationBei Menschen mit frühkindlichem Autismus fehlt bei etwa der Hälfte der Patienten eine Sprachentwicklung ganz. Bei der anderen Hälfte der Patienten kommt es zu einer Verzögerung der Sprachentwicklung. Anfangs fehlt der Sprache die kommunikative Funktion. Wörter oder Sätze werden einfach wiederholt (Echolalie). Im Kindesalter vertauschen die Patienten oft die Pronomina (pronominale Umkehr). Sie reden von anderen als ich und von sich selbst als du oder in der dritten Person. Diese Eigenart bessert sich überlicherweise im Laufe der Entwicklung. Wortneuschöpfungen (Neologismen) treten häufig auf. Menschen mit frühkindlichem Autismus haften an bestimmten Formulierungen (Perseveration). In der Kommunikation mit anderen Menschen haben sie Schwierigkeiten, Gesagtes über die genaue Wortbedeutung hinaus zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen. Ihre Stimme klingt eintönig (fehlende Prosodie).
Die Probleme in der Kommunikation äußern sich außerdem in Schwierigkeiten in der Kontaktaufnahme zur Außenwelt und zu anderen Menschen. Manche Autisten scheinen die Außenwelt kaum wahrzunehmen und teilen sich ihrer Umwelt auf ihre ganz individuelle Art mit. Deshalb wurden autistische Kinder früher auch Muschelkinder oder Igelkinder genannt. Die Wahrnehmungen im visuellen und auditiven Bereich sind oft deutlich intensiver als bei neurologisch typischen Menschen, daher scheint eine Abschaltfunktion im Gehirn die Reizüberflutung als Selbstschutz auszublenden. Autisten haben ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Bedürfnis nach Körperkontakt. Einerseits nehmen manche mit völlig fremden Menschen direkten und teils unangemessenen Kontakt auf, andererseits kann auch jede Berührung für sie aufgrund der Überempfindlichkeit ihres Tastsinns unangenehm sein.
Vor diesem Hintergrund gestaltet sich eine verstehende Kommunikation mit einem Autisten als schwierig. Emotionen werden oft falsch gedeutet oder gar nicht erst verstanden. Diese möglichen Probleme müssen bei der Kontaktaufnahme berücksichtigt werden und verlangen ein großes Einfühlungsvermögen.

Autismus

Autismus (v. gr.: selbst) ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung.
Ausprägungen von Autismus sind frühkindlicher Autismus (einschließlich der Variante hochfunktionaler Autismus), atypischer Autismus und Asperger-Syndrom, die zusammen das Autismusspektrum bilden. Um der Tatsache, dass es sich bei Autismus um ein Kontinuum verschiedener Ausprägungen handelt, begrifflich gerecht zu werden, wird auch von Autismusspektrumstörung (ASS) gesprochen.
Geprägt wurde der Begriff „Autismus“ 1911 durch den schweizer Psychiater Eugen Bleuler. Autismus nannte er ein Grundsymptom der Schizophrenie, das die Zurückgezogenheit in die innere Gedankenwelt bei an Schizophrenie erkrankten Menschen meinte.
Leo Kanner (Lit.: Kanner 1943) und Hans Asperger (Lit.: Asperger 1944) nahmen diesen Begriff auf und benannten so ein Störungsbild eigener Art. Im Unterschied zu Menschen mit Schizophrenie, die sich aktiv in ihr Inneres zurückziehen, beschrieben Kanner und Asperger Menschen, die von Geburt an in einem Zustand der inneren Zurückgezogenheit leben. Damit unterlag der Begriff „Autismus“ einem Bedeutungswandel. Heutzutage wird der Begriff „Autismus“ zur Bezeichnung des von Kanner und Asperger beschriebenen Störungsbildes gebraucht.
Kanners Nachforschungen, die den Begriff „Autismus“ eng fassten und im wesentlichen den heute so genannten frühkindlichen Autismus beschrieben, erlangten internationale Anerkennung und wurden zur Grundlage der weiteren Autismusforschung. Die Veröffentlichungen Aspergers hingegen, die den Begriff „Autismus“ weiter fassten und auch leichtere Fälle mit einbezogen, wurden zunächst international kaum rezipiert, zum einen wegen des Zweiten Weltkriegs und zum anderen, weil Asperger auf deutsch publizierte. Erst in den 1990er Jahren erlangten die Forschungen Aspergers internationale Bekanntheit in Fachkreisen. Die englische Psychologin Lorna Wing (Lit.: Wing 1981) führte in den 1980er Jahren die Forschungen Aspergers fort und definierte die von Asperger beschriebenen leichteren Fälle von Autismus als Asperger-Syndrom.
Es werden drei Typen von Autismus unterschieden:
Atypischer Autismus, Frühkindlicher Autismus (auch infantiler Autismus, autistische Störung, Kanner-Syndrom oder Kanner-Autismus genannt) einschließlich der Variante des hochfunktionalen Autismus (engl. high-functioning autism) und Asperger-Syndrom. Diese drei Typen bilden zusammen das Autismusspektrum (engl. autism spectrum). Auf der einen Seite dieses Spektrums steht der atypische Autismus, der meist mit schwerer geistiger Behinderung auftritt. Auf der anderen Seite dieses Spektrums ist das Asperger-Syndrom angesiedelt, das in der Regel mit normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz auftritt. Sowohl die Übergänge innerhalb des Spektrums als auch der Übergang vom Asperger-Syndrom zur „Normalität“ sind fließend. Allen Zuständen innerhalb dieses Spektrums sind die Merkmale eingeschränkte soziale Interaktion, eingeschränkte Kommunikation und repetitive Verhaltensmuster gemeinsam. Je nach Intensität der Ausprägung werden Patienten innerhalb dieses Spektrums eingeordnet.
Atypischer Autismus unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch, dass Kinder nach dem dritten Lebensjahr erkranken (atypisches Erkrankungsalter) und/ oder nicht alle Symptome aufweisen (atypische Symptomatik und atypisches Erkrankungsalter/ atypische Symptomatik).
Autistische Kinder mit atypischem Erkrankungsalter zeigen hinsichtlich der Symptome das Vollbild des frühkindlichen Autismus, das sich bei ihnen aber erst nach dem dritten Lebensjahr manifestiert.
Autistische Kinder mit atypischer Symptomatik legen Auffälligkeiten an den Tag, die für den frühkindlichen Autismus typisch sind, jedoch die Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus nicht vollständig erfüllen. Dabei können sich die Symptome sowohl vor als auch nach dem dritten Lebensjahr manifestieren. Diese Form des atypischen Autismus tritt oft mit erheblicher Intelligenzminderung auf, weshalb auch von „Intelligenzminderung mit autistischen Zügen“ gesprochen wird.